Wenn die Augen schwächer werden, können digitale Technologien die Teilhabe an der Gesellschaft deutlich verbessern. In Kursen lernen Sehbehinderte, ihr Smartphone optimal einzusetzen. Travail.Suisse Formation, hat im Rahmen seines Projektes „Besserer Zugang für blinde und sehbehinderte Menschen zur öffentlichen Weiterbildung“ die Apfelschule besucht und sehbehinderten Menschen beim Lernen über die Schultern geschaut[1].
Suchend streicht Cécile Haldemann über das Display ihres Smartphones. „Telefon, WhatsApp, E-Mail, Rekunia“, liest ihr die Computerstimme vor. Sie tippt die Rekunia-App an, klaubt ein Bündel Noten aus ihrem Portemonnaie und richtet die Kamera auf eine davon. „Etwas näher dranhalten“, rät Kursleiter Sandro Lüthi. Nun klappt‘s: „Zehn Schweizer Franken“, tönt es aus dem Telefon. „Die neuen Geldscheine sind für mich schwierig auseinanderzuhalten, weil sie fast gleich gross sind“, sagt die 61-Jährige. Während geübte Sehbehinderte die Noten anhand von feinen tastbaren Strichen an den Rändern erkennen, fällt dies Menschen, die sich noch vor Kurzem auf ihre Augen verlassen konnten, schwerer. „Bis anhin hatte ich meistens einen Sack voll Fünfliber bei mir, weil diese sich gut von anderen Münzen unterscheiden lassen“, lacht Haldemann. „Man wird erfinderisch.“
Um den Umgang mit ihrem Smartphone zu üben, hat die Frau aus dem St. Gallischen Gommiswald Anfang November an einem zweitägigen Workshop in Uznach teilgenommen. Der Verein Apfelschule bietet regelmässig Kurse in der ganzen Schweiz an. Für blinde und sehbehinderte Menschen sind digitale Geräte eine grosse Hilfe bei der Bewältigung des Alltags. Doch die optimale Anwendung will gelernt sein. Viele ältere Menschen sind mit dem Smartphone noch wenig vertraut. Jüngere dagegen müssen die Bedienung mit der Stimme üben.
Den fruchtigen Namen hat sich die Organisation gegeben, weil Geräte der Marke Apple für Sehbehinderte einst am besten geeignet waren. Das Betriebssystem des iPhone enthielt als erstes integrierte Bedienungshilfen wie etwa die sprechende Assistentin Siri sowie die Funktion VoiceOver, die Texte laut vorliest. Zudem gibt es verschiedene spezielle Apps, die heruntergeladen werden können. Finanziell ist der Verein aber nicht vom Apple-Konzern abhängig, sondern wird vom Schweizerischen Blinden- und Sehbehindertenverband (SBV) unterstützt.
Übung und Kniffe
„Das Smartphone erweitert meine Bewegungsfreiheit erheblich“, sagt Geschäftsführer Sandro Lüthi. Der 41-Jährige ist seit zehn Jahren selbst von einer fortschreitenden degenerativen Augenkrankheit betroffen, hat aber noch einen Sehrest. Er hat sein Smartphone so eingerichtet, dass die Schrift weiss auf schwarzem Hintergrund erscheint; so kann er es vorderhand noch optisch bedienen. Lüthi ist mit digitalen Technologien aufgewachsen und kann sich dennoch gut in andere Generationen einfühlen. „Wenn schon sehbehindert sein, dann ist heute die beste Zeit dafür», stellt er klar.
Dass Cécile Haldemann vollständig bind ist, merkt man ihr kaum an. In den vertrauten Räumen bewegt sie sich auch ohne Stock sicher und stösst kaum an. Beim Sprechen schaut sie dem Gegenüber direkt in die Augen. Doch im Alltag ist die aktive, lebenslustige Frau stark auf die Unterstützung ihres Ehemannes und des grossen Bekanntenkreises angewiesen. Bis vor Kurzem hat sie sich noch mit ihrem alten Tasten-Handy durchgeschlagen. Doch dies wurde immer schwieriger. „Nachrichten lesen und schreiben konnte ich nicht mehr.“ Erst vor einer Woche hat sie sich deshalb ein Smartphone zugelegt. Die Spracherkennungs-Software Siri ist zu ihrer treuen Assistentin geworden. „Bitte ruf Werner an“, sagt Haldemann, oder „Schreib Helen ein WhatsApp.“ Siri gehorcht brav und setzt die gesprochenen Worte in Schrift um. Sie kennt auch sämtliche Emojis besser als viele Sehende und beschreibt sie: «Grinsendes Gesicht mit zusammengekniffenen Augen, Pizzastück, Flagge von Togo». Zudem hat Siri den Zeitplan im Griff: Sie trägt Termine in der Agenda ein oder antwortet auf die Frage: «Was für Termine habe ich heute?»
Mobil und informiert
Zeit für eine Pause, in der sich die Kursteilnehmer rege über ihre Erfahrungen austauschen. Nach einem Kaffee steht die Bedienung der SBB-App auf dem Programm. Kursleiter Jörg Schilling erklärt, wie man Abfahrts- und Zielort über Sprachbefehle eingibt und die Verbindung abruft. Zudem empfiehlt er, die geplante Reise stets zu speichern. „So kündigt euch die App an, wann ihr aussteigen müsst. Das ist praktisch, wenn ihr nicht mehr sicher seid, welche Haltestelle als nächste kommt.“ Ein weiteres Thema des Kurses sind Medien: Auf Play-SRF können auch Blinde problemlos Radio und Fernsehen hören. Und auf der App E-Kiosk stehen ihnen für rund 100 Franken im Jahr die meisten Schweizer Zeitungen zur Verfügung. Damit Sehbehinderte auch gewöhnliche Webseiten und Apps nutzen können, sollten sie barrierefrei gestaltet sein. Bei den meisten offiziellen Angeboten wie etwa der SBB-Fahrplanabfrage sei dies heute gewährleistet, sagt Sandro Lüthi.
Auch Ernst Horat ist sehr froh um all die digitalen Hilfen, die ihm zur Verfügung stehen. Denn das Lesen längerer Texte ist für den 78-Jährigen sehr anstrengend geworden. «Der Blick ist verschleiert, wie wenn jemand die Vorhänge gezogen hätte», erklärt der vitale Renter aus Richterswil, der vor weniger als einem Jahr noch mit dem Auto unterwegs war. Nun kann er sich in der Öffentlichkeit noch knapp mit den Augen orientieren, doch Bücher und Zeitungen lässt er sich vom Screenreader vorlesen. Ein iPhone besitzt er schon länger. „Früher habe ich Siri mehr als Spielerei und Zeitverschwendung angeschaut“, sagt Ernst Horat. «Heute ist die digitale Assistentin für mich zur unentbehrlichen Begleiterin im Alltag geworden.»
Nicht allein gelassen mit der Technik
Der Verein Apfelschule geht auf das Engagement des heutigen Ehrenpräsidenten Urs Kaiser zurück. Der blinde Solothurner hatte vor rund 7 Jahren begonnen, Blinde und Sehbehinderte im Umgang mit ihrem Smartphone zu unterstützen. Wegen zunehmender Nachfrage wurde 2016 ein offizieller Verein gegründet mit je einer professionellen Geschäftsstelle in der Deutschschweiz und der Romandie. Die Apfelschule bietet an diversen Standorten Basis-, Aufbau- und Themenkurse an. Neben Kommunikation und Organisationshilfen werden Aspekte wie Mediennutzung und Navigation aufgegriffen. www.apfelschule.ch
Schulungen und Beratungen für die Bedienung technischer Geräte bietet zudem die Firma Tools4theBlind an, die 2007 von Stefan Hofmann gegründet wurde. In seinem Verkaufslokal in Winterthur sind zahlreiche Hilfsmittel für Arbeit, Alltagsgestaltung und Unterhaltung erhältlich. Das Team bietet zudem Unterstützung beim Einrichten des Arbeitsplatzes an. www.tools4theblind.ch